"Vielleicht werden ja durch meine Geschichte andere Menschen in ähnlicher Situation auf den Hospizdienst aufmerksam“, meint Brigitte P. Seit Ostern ist die 53-Jährige Gast im „Lebenshaus“. Im Herbst des vergangenen Jahres hatte sie eine starke Bronchitis bekommen. Schließlich musste sie im Januar erfahren, dass ihr Brustkrebs, bei dem die Ärzte ihr gute Heilungschancen eingeräumt hatten, Metastasen in der Lunge gebildet hatte. „Manchmal fühle ich mich gar nicht so krank. Mir ist, als könnte ich mich jetzt aufs Rad setzen oder einen Spaziergang machen, aber dann muss ich mich doch gleich wieder hinsetzen und bekomme keine Luft“, beschreibt Frau P. ihren Zustand. Zwei Lungenentzündungen hatten sie schließlich so geschwächt, dass sie sich entschloss, nach einem Krankenhausaufenthalt zunächst ins „Lebenshaus“ zu gehen. Doch die eigene Wohnung an der Weseler Straße wartet, und der Wunsch, noch einmal zurück in ihr eigenständiges Leben zu gehen, ist groß bei Frau P.
Ein bewegtes Leben
Immer hatte sie alles geregelt, immer hatte sie „ihre Frau gestanden“. Brigitte P. hat ein bewegtes Leben hinter sich. Gebürtig aus Delitzsch in Sachsen, ging die junge Frau zunächst zum Studium nach Ost-Berlin und ließ sich zur Metallographin und parallel dazu zur Chemie-Facharbeiterin ausbilden. Dieser Beruf ließ keine Kindererziehung zu, es gab nur volle Stellen, und so wechselte Frau P., nachdem ihre Söhne auf der Welt waren, in die EDV-Abteilung eines Metall verarbeitenden Betriebes in Delitzsch.
Das Leben von Brigitte P. änderte sich 1979 grundlegend. Nach dem Scheitern ihrer ersten Ehe hatte sie einen in der DDR lebenden Griechen geheiratet, dem sie, nachdem alle Formalitäten erledigt waren, 1979 nach Athen folgte. „Es war nicht leicht. In der DDR wurde alles für uns geregelt, man war versorgt. In Athen musste ich mich auf eigene Füße stellen.“
Von nun an arbeitete Brigitte P. in der Reise-Branche, in einem Reisebüro, das Fähr- und Busreisen organisierte. Auf den Ehemann war wenig Verlass, Frau P. brachte das Geld nach Hause. Auch diese Ehe scheiterte, und Frau P. ging 1986 nach Westdeutschland. „Was sollte ich tun, ich hatte vier Jahre überlegt, ob ich nach Griechenland gehen sollte oder nicht. Hätte ich im Westen gelebt, hätte ich die Kinder mal für einige Zeit meinen Eltern überlassen können, um das Experiment zu wagen. Aber als DDR-Bürgerin gab es nur ein Entweder-Oder“, erinnert sich Frau P.
Im Westen gab es einen neuen Start. „Mit drei Koffern und 15 DM West pro Kopf waren wir nach Griechenland gekommen, und als wir schließlich nach Westdeutschland gingen, war’s auch nicht mehr.“ In die DDR wollte Frau P. nicht zurück, und wieder leistete sie Aufbau-Arbeit, schlug sich und die Kinder durch, zunächst in Frankfurt, dann, in Münster. „Ich habe jede Arbeit gemacht, um für meine Kinder zu sorgen“, erinnert sie sich. Nach diversen Jobs als Putzfrau, Haushälterin und Köchin fand sie schließlich 1988 eine Anstellung in einem Reisebüro in Münster.
Beginn der Krankheit
Wenn ihr Leben nun zwar äußerlich in geregelte Bahnen gelenkt worden war, kam Frau P. doch nicht zur Ruhe. 1989 setzten Depressionen ein, denen sie sich hilflos ausgeliefert fühlte. „Da ging gar nichts mehr, Depressionen lähmen einen völlig. Ich habe mich oft gefühlt wie Don Quijote, der gegen Windmühlenflügel kämpft“, berichtet sie. Sogar Krebs sei da etwas anderes, das sei ein körperlicher Vorgang, der eine gewisse Entwicklung nehme, doch die Depression sei einfach da, uneinschätzbar und nicht zu beeinflussen. Da sei die Antriebslosigkeit, die auch durch ein energisches „du musst“ nicht zu besiegen sei. Wieder kämpfte Frau P., ging arbeiten, versorgte die Kinder. „Der Publikumsverkehr im Reisebüro tat mir immer gut, ich habe die Arbeit sehr gemocht.“
Doch 1998 war damit Schluss. Frau P. wurde wegen der Depressionen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Als sie schließlich im August 2000 mit ihrer Brustkrebs-Diagnose konfrontiert wurde, hatte sie gerade darüber nachgedacht, wie sie sich ihr Frührentnerinnen-Dasein gestalten könne. Der jüngste Sohn war zu Hause ausgezogen, sie dachte über eine ehrenamtliche Arbeit nach, überlegte, ob sie sich nun, nachdem die jahrelange Sorge um die Kinder zu Ende war, mal etwas gönnen könnte. Alles kam anders, der Kampf gegen den Krebs begann. „Erstmals habe ich alles allein regeln können, bin zu meinen Chemos gefahren, habe keine Hilfe gebraucht, auch von den Kindern nicht“, erinnert sich Frau P. Um Hilfe zu bitten, das kam ihr nicht in den Sinn.
Die Zeit, Hilfe annehmen zu müssen, ist jetzt für Frau P. gekommen. Damit hat ihr Leben eine andere Dimension bekommen. Nach jahrelanger Erziehungsarbeit sieht sie, dass ihre Söhne, wenn auch beide berufstätig und nicht in Münster lebend, für sie da sind. Die Mitarbeiterin des ambulanten Hospizdienstes, die sie seit längerem betreut, vergleicht sie mit „einem Sechser im Lotto“. Hier habe sie, so betont sie, einen wertvollen Menschen kennen gelernt, eine Frau, mit der sie die gleichen Vorstellungen und Ideen, vor allem auf spirituellem Gebiet, verbinden. Sie, die so tatkräftig war und so unabhängig gelebt hat, ist für diesen helfenden Kontakt dankbar. „Früher fiel es mir nicht ein, um Hilfe zu bitten, aber jetzt habe ich gelernt, auch mal laut danach zu rufen.“
Angst vor dem Tod?
Frau P. ist sich der Schwere ihrer Krankheit durchaus bewusst. „Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Sterben. Ich weiß ja nicht, wie ich sterben werde und hoffe, dass es möglichst schmerzfrei sein wird.“ Wie viel Zeit ihr noch bleibt, weiß sie nicht. „Vielleicht erlebe ich noch meinen nächsten Geburtstag im Sommer. Vielleicht höre ich noch, dass mein kleiner Enkel Marek 'Oma’ zu mir sagt“, hofft sie. Spiritualität, der Glaube an Gott und an eine unsterbliche Seele, helfen ihr auf ihrem schweren Weg. „Ich bin evangelisch getauft, aber ich bin keine Kirchgängerin. Ich glaube an ein höheres Wesen, an Gott, und ich glaube, der ist überall. Ich kann immer zu ihm sprechen.“ Mit dem Buddhismus und dem Islam hat sie sich ein wenig auseinandergesetzt. „Ich denke, es gibt eine Trennung von Körper und Seele. Auch eine Wiedergeburt halte ich nicht für ausgeschlossen.“
Diese Vorstellungen geben ihr Kraft. Auf ihr Leben zurückblickend, beklagt und beschönigt sie nichts. Mit ihrem harten Leben ist sie ausgesöhnt. „Ich habe meine Söhne ins Leben entlassen, in ein gutes, erfülltes Leben. Und ich glaube, ich hätte, vor die Entscheidungen gestellt, alles wieder so gemacht.“ Das sei, so bilanziert Frau P., wie eine innere Führung, wie ein innerer Begleiter.
Da gibt es nun auch nichts mehr zu rechten, zu bereuen oder zu korrigieren. Frau P. strahlt Ruhe und innere Festigkeit aus. Sie ist, so scheint’s mit sich und Gott im Reinen.